Eine Tragödie für unsere Zeit

"ödipus" - Regie: Thomas Ostermeier - Schaubühne, Berlin

"ödipus"- Inszenierung an der Berliner Schaubühne ist eine klassische Tragödie, die für die heutige Realität umgeschrieben wurde. Sie vermittelt die Emotionen, die Erzählungen aus einer antiken, weit entfernten Welt in uns heute wahrscheinlich nicht mehr erwecken können. Die Tragödie unserer Zeit ist ein ebenso interessantes wie anstrengendes Spektakel. Dies ist kaum überraschend.

"ödipus"- Inszenierung an der Berliner Schaubühne ist eine klassische Tragödie, die für die heutige Realität umgeschrieben wurde. Sie vermittelt die Emotionen, die Erzählungen aus einer antiken, weit entfernten Welt in uns heute wahrscheinlich nicht mehr erwecken können. Die Tragödie unserer Zeit ist ein ebenso interessantes wie anstrengendes Spektakel. Dies ist kaum überraschend.

Unter der Regie von Thomas Ostermeier wurde das Stück im September 2021 im antiken Amphitheater von Epidauros uraufgeführt. Kurze Zeit später wurde es an der Schaubühne in Berlin aufgeführt. Der von Maja Zade verfasste Text basiert auf Sophokles' "König Ödipus". Die Figuren des Stücks sind zeitgenössische Deutsche, aber die Geschichte behält die Struktur des griechischen Originals bei. Christina (Caroline Peters) ist die Inhaberin eines Chemieunternehmens. Der junge Michael (Renato Schuch), ihr Angestellter und gleichzeitig ihr Partner, untersucht einen Verkehrsunfall, bei dem der frühere Inhaber der Firma ums Leben kam. Da vermutet wird, dass der Unfall zu einer Umweltverschmutzung geführt hat, ordnet Michael eine gründliche Untersuchung an. Das Stück schildert den Tag, an dem die Hauptpersonen die schockierende Wahrheit nicht nur über die Umstände des Unfalls, sondern auch über ihre Beziehung zueinander erfahren. Das Stück spielt in der griechischen Villa, in der Christina und Michael ihren Urlaub verbringen. Tagsüber gesellen sich Robert (Christian Tschirner), Christinas Bruder, und Theresa (Isabelle Redfern), ihre enge Freundin, zu ihnen.

"ödipus" ist ein Stück darüber, wie sich das Leben in einem Augenblick ändern und das Glück plötzlich zerbrechen kann. Es zeigt die tragischen Folgen der Kenntnis der Wahrheit. Es stellt sich die Frage, was besser ist: Wissen oder Nichtwissen. Diese Frage ist die Quelle der Konflikte zwischen den Figuren des Stücks. Die Vorstellung beginnt mit einem Streit zwischen Robert und Michael über die Einleitung einer Untersuchung über den Zustand der Umwelt. Nach Roberts zynischer Logik ist es für die Firma besser, nichts von einer möglichen Umweltkatastrophe zu wissen. Unwissenheit ist ein Schutz vor Verantwortung.

Es ist beunruhigend, die Diskussionen der Vorstandsmitglieder eines Unternehmens zu verfolgen. Man kann nicht umhin, sich zu fragen, wie viele ähnliche Diskussionen hinter den verschlossenen Türen großer Unternehmen geführt werden, denen der Profit wichtiger ist als das Wohlergehen von Natur und Menschen. Und da in erster Linie die Verschmutzung des Wassers zur Sprache kommt, drängen sich Assoziationen an die diesjährige Umweltkatastrophe an der Oder auf. Die Tatsache, dass das Stück zum Nachdenken über die Welt außerhalb des Theaters anregt, ist sein großes Vorteil.

Michael ist der Einzige, der durchgehend darauf besteht, dass die Wahrheit trotz allem bekannt sein muss. Ironischerweise ist er derjenige, der später am deutlichsten den bitteren Geschmack des Wissens erfahren wird. "Warum muss ich das wissen? Ich war glücklich, bis ich es herausfand!", wird er ausrufen. Seine rasende Wut am Ende des Stücks wird nicht einmal durch Bedauern über vergangene Ereignisse ausgelöst, sondern durch die Tatsache, dass sie ihm bewusst gemacht wurden.

Zade hat das Thema der schwierigen Mutterschaft und die Kritik an der gesellschaftlichen Stellung der Frau in Sophokles' Drama eingeführt. Christinas Geschichte ist der Dreh- und Angelpunkt des Stücks. Aus den Erzählungen der Figur erfahren wir, dass sie verheiratet war, bevor sie überhaupt 20 Jahre alt war, und dass sich ihr Leben lange Zeit darauf beschränkte, die Rolle der guten Ehefrau zu spielen. In ihrer Jugend wurde sie Opfer einer Vergewaltigung in der Ehe. Dies ist ein wichtiges Thema, das viel zu oft totgeschwiegen wird. Hier wird offen über sie gesprochen. Als wir sie kennenlernen, ist Christina bereits Eigentümerin eines großen Unternehmens, aber die Machtverhältnisse zwischen ihr und den anderen Vorstandsmitgliedern, insbesondere ihrem Bruder, sind mehrdeutig. Infolgedessen kommen ihr Zweifel, ob sie ihre Stelle aufgeben sollte. Dass, der Schwerpunkt des Stücks sich auf den Erfahrungen und der Perspektive einer Frau basieren, verkompliziert eine alte Geschichte und verleiht ihr neue Resonanz.

Christina ist eine tragische Heldin, die zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin- und hergerissen ist - sie ist gleichzeitig eine liebende Verlobte und eine Mutter, die ihr Kind hasst. Caroline Peters hat diese Rolle mit Bravour gemeistert. Es gelingt ihr, das Leiden der Frau auf bewegende Weise darzustellen, frei von Pathos und Übertreibung zugleich. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie die schreckliche Wahrheit erkennt, ist unvergesslich. Auch die übrigen Darsteller sind sehr gute Schauspieler. Die Reaktionen von Renato Schuch waren manchmal lächerlich, aber das kann auf die Natur der Figur, die er spielt - Michael - zurückgeführt werden.

Die Tatsache, dass das Publikum in eindeutig dramatischen Momenten des Stücks in Gelächter ausbrach, ist jedoch rätselhaft. Eine Tragödie zu inszenieren, ohne ins Groteske zu verfallen, war, glaube ich, die größte Herausforderung für die Schöpfer von "ödipus". Sie haben sie nicht vollständig erfüllt. Der unglückliche Zufall, der zu der geschilderten Katastrophe führte, war äußerst unwahrscheinlich, wie auch die Figuren selbst feststellen. Alles, was schief gehen konnte, ging schief. Obwohl das Stück die Geschichte im Allgemeinen überzeugend erzählt, kann man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass die Situation auf der Bühne absurd ist. Sogar Michael fängt an einer Stelle an zu lachen. Als Zuschauer fühlen wir uns den Figuren des Stücks nicht genug verbunden, um über ihr Schicksal zu weinen. Was bleibt uns also, wenn nicht das Lachen? Es ist auch möglich, dass die Spannung, die sich im Laufe des Stücks aufbaut, irgendwann unerträglich wird und auf irgendeine Weise abgebaut werden muss.

"ödipus" beginnt mit einem hitzigen Streit und steigert die Spannung noch weiter. In der Aufführung gibt es im Grunde keine Momente der Entspannung. Während der gesamten zweistündigen Dauer spürte ich ein Ziehen in meinem Magen. Ostermeier führt zwar Elemente ein, die die Handlung unterbrechen, aber sie schaffen auch eine Atmosphäre der Beklemmung. Auf dem Bildschirm im hinteren Teil der Bühne ist beispielsweise eine Videoinstallation zu sehen, die aus Fernsehberichten über verschiedene Katastrophen besteht.

Die Videoinstallationen von Mathias Schellenberg und Thilo Schmidt sind ein wesentlicher Bestandteil der Aufführung. Manchmal bereichern sie das Stück, manchmal wirken sie aber auch völlig überflüssig. Etwas, das zweifellos funktioniert, ist die Darstellung von vergrößerten Gesichtern der Figuren in bestimmten Schlüsselmomenten. Die Schauspieler und Schauspielerinnen werden von einem Kameramann, der die Bühne betritt, in Großaufnahme gefilmt. Ein solches Verfahren hat eine ähnliche Wirkung wie der Verfremdungseffekt von Brecht. Sie verändert die Haltung des Publikums gegenüber den Figuren. Es geht nicht um Einfühlung, sondern um eine Art Studium der menschlichen Gefühle und Verhaltensweisen. Die Anwesenheit des Kameramanns erinnert uns daran, dass das, was wir sehen, nicht die Wahrheit ist, sondern eine theatralische Darstellung. Ostermeier verbindet geschickt Elemente des Epischen und des antiken Theaters. Das Ergebnis ist äußerst interessant.

Elemente aus dem Epischen Theater verhindern nicht, dass die Inszenierung die Emotionen des Publikums berührt. Ostermeier konfrontiert das Publikum mit einer Geschichte voller Leid, zumal bestimmte Aspekte der alten Geschichte auf die Spitze getrieben werden. Das suggestive, wenn auch minimalistische Bühnenbild von Jan Pappelbaum unterstützt den Text des Stücks. Ihr Hauptelement ist eine Konstruktion aus langen LED-Röhren, die den Raum der Villa abgrenzen. Gegen Ende des Stücks leuchten die Glühbirnen so hell, dass einem die Augen wehtun, wenn man auf die Bühne schaut. Das ist sehr sinnvoll, denn es ist in der Tat schmerzhaft, die Ereignisse vor unseren Augen zu sehen. Aufgrund des Endes des Stücks kann man mit Fug und Recht behaupten, dass es den Machern von "ödipus" gelungen ist, eine Tragödie zu schaffen, die tragischer ist als "König Ödipus" selbst. Vielleicht muss eine Tragödie für unsere Zeit genau das sein. Vielleicht würde es sonst keinen Eindruck mehr auf uns machen.

Es stellt sich jedoch die Frage, welchen Zweck die Aufführung eines solchen Stücks hat. Die Schwere des Stücks ergibt sich nicht aus der Behandlung schwieriger Themen, vor denen das Theater unbedingt nicht zurückschrecken sollte, sondern aus der Darstellung einer unwahrscheinlichen, aber grausamen Geschichte. Aristoteles schrieb, dass eine Tragödie Mitleid und Beklemmung im Publikum wecken sollte, um am Ende eine Beruhigung dieser Gefühle zu bewirken. Leider hinterließ "ödipus" bei mir nicht das Gefühl der Katharsis, sondern leichte Kopfschmerzen. Es gab mir jedoch das Gefühl, etwas wirklich Originelles gesehen zu haben. Ich denke, dass alle Geschichten, auch die seltsamen und nicht unbedingt angenehmen, wissenswert sind. Vor allem, wenn sie so gut erzählt werden wie in der von Ostermeier und Zade geschaffenen Show.

Premiere war am 19. September 2021

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10 grudnia 2022

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